Mein erster Marathonlauf in Tschechien
Als Marathonsammler bin ich vor allem Erlebnissammler. Sind es nicht die schönen Erlebnisse, die unser Leben so wertvoll machen? Solch wertvolle Momente erlebte ich anlässlich eines Marathons in Pilsen, einer Stadt, die ich bisher nicht kannte und vor allem mit „Pilsener Urquell“ verband. Anlass war die "Goldene Woche", eine Veranstaltung, die an die unglaublichen Erfolge Emil Zátopeks bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki erinnert.
Für mich war dieser Marathon in Pilsen nicht nur eine Gelegenheit, ein weiteres Land meiner Läuferkarte hinzuzufügen, sondern auch eine Reise in die reiche Geschichte des Laufsports und in eine sehr schöne Stadt.
Emil Zátopek – eine Legende des Laufsports
Emil Zátopek, ein Name, der mich seit Kindesbeinen an begleitet. Schon mein Vater erzählte mir bei gemeinsamen Trainingsläufen in der Eifel von der „Tschechischen Lokomotive“, so Emils Spitzname aufgrund seines unnachahmlichen Laufstils. Diesen Stil wollte jedoch niemand nachahmen, da er zu verkrampft und kraftraubend wirkte. Ganz im Gegenteil, Emil erhielt viele Ratschläge, leichter und eleganter zu laufen, was ihn zu folgender Aussage verleitete: "Ich werde mit perfektem Stil laufen, wenn sie Rennen nach ihrer Schönheit bewerten, wie im Eiskunstlauf. Im Moment will ich einfach nur so schnell wie möglich laufen."
Und obwohl er eher zu Kämpfen als zu Laufen schien, erreichte er zahlreiche großartige Rekorde und Leistungen. Sein größter Erfolg war der Dreifachtriumph bei den Olympischen Spielen von Helsinki 1952 über 10.000 Meter, 5.000 Meter und die Marathondistanz von 42.195 Metern. Diese Leistung, drei olympische Goldmedaillen innerhalb von nur acht Tagen zu gewinnen, inspirierte einen Laufsportverein in Pilsen, diese „goldene Woche“ nachzuerleben. Jedes Jahr veranstaltet der SC Marathon Pilsen Läufe für Jedermann über genau diese Distanzen. Dieses Jahr wollte auch ich teilnehmen.
Und so nutze ich meine Zugfahrt am Freitag, dem Tag vor dem Marathonlauf zu Ehren Emils am Samstag, um sowohl an meinen Marathonlauf in Helsinki und die gemeinsamen Läufe mit meinem Vater in den siebziger Jahren zu denken, als auch an den großen Sportler Emil Zátopek (1922-2000).
Das Training von Emil Zátopek
Emil Zátopek wurde am 19. September 1922 in Kopřivnice, in der damaligen Tschechoslowakei, dem heutigen Tschechien, geboren. Seine sportliche Karriere begann im Alter von 18 Jahren in den 1940er Jahren, als er von seinem Arbeitgeber, einer Schuhfabrik, gegen seinen Willen zum ersten Laufwettkampf beordert wurde.
Emil fand Gefallen am Laufen, begann zu trainieren und war stets sein eigener Trainer. Er trainierte hart, experimentierte mit damals wie heute unorthodoxen Methoden, lief lange Distanzen in Armeestiefeln oder auf unebenen Oberflächen, um sich an extreme Wettkampfbedingungen zu gewöhnen. Auch führte er oft kurze, hochintensive Läufe durch, die er mit kurzen Pausen kombinierte. Zum Beispiel lief er 400-Meter-Intervalle mit nur kurzen Trabpausen bis zu 100 Mal – in einer Trainingseinheit! Emil absolvierte sehr hohe Umfänge und erreichte für die damalige Zeit extreme Wochenkilometer. Er war überzeugt, dass eine hohe Laufleistung und hartes Training die Grundlage für seine Ausdauer, Wettkampfhärte und Regenerationsfähigkeit waren. Mit dieser Einstellung erlangte er schnell Anerkennung, gewann die ersten Rennen, verbesserte mehrfach Landesrekorde über viele Distanzen und brach später sogar gültige Weltrekorde über 10.000 und 20.000 Meter.
Sein wohl größter Triumph kam bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki, wo er als bisher einziger Athlet in der Geschichte der Spiele Goldmedaillen in allen Langstreckenwettbewerben gewann. Im Detail: Am 20. Juli 1952 gewann Zátopek Gold im 10.000-Meter-Lauf, am 24. Juli 1952 folgte der Sieg über 5.000 Meter. Der krönende Abschluss war sein Erfolg im Marathon am 27. Juli 1952, der um 15:30 Uhr startete. Es war sein erstes Marathonrennen überhaupt. Heute wird ihm folgendes Zitat zugeordnet: "Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn du ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf Marathon."
Diese Leistungen machen ihn für den Sport unsterblich und führen mich – 72 Jahre nach seinem olympischen Marathonlauf von Helsinki, am Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele von Paris 2024 – nach Pilsen, um selbst einen Marathon zu laufen. So wie das Vorbild, auch mit Startschuss um 15:30 Uhr, am 27. Juli 1952. Die Wetterprognose für den 27. Juli 2024: 32 Grad, Sonne, kein Regen. So sollte es auch kommen.
Anekdoten Begegnungen
Dritter beim Sieg von Emil Zátopek über 5.000 Meter in Helsinki, und somit Gewinner der Bronzemedaille, wurde der Deutsche Herbert Schade. Herbert, geboren in Solingen (1922–1994), stammte aus derselben Stadt wie mein Vater, Karl-Wilhelm Butz (1930–2006). Mein Vater, der eigentlich Feldhandballer in Wuppertal war, trat zumindest einmal bei einem Volkslauf gegen Herbert Schade an. Wie das Rennen ausgegangen ist, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich gut an die Begeisterung meines Vaters, als er über diesen Lauf gegen den deutschen Rivalen von Emil Zátopek, dem größten Laufsportler seiner Zeit, erzählte. Es ist überliefert, dass Herbert Schade und Emil Zátopek später eine freundschaftliche Beziehung pflegten, trotz der unterschiedlichen Nationalitäten und politischen Systeme, aus denen sie kamen.
Mein Aufenthalt in Pilsen
Pilsen, eine Stadt im Westen Tschechiens, war mir bisher nur für ihr weltberühmtes Bier bekannt, das Pils. Ich hörte aber auch von einer lebendigen Altstadt und historischen Gebäuden und Sehenswürdigkeiten, die ich bei meinem Anreisetag noch entdecken wollte.
Das Hotel Courtyard by Marriott hat sich im Nachhinein als sehr gute Wahl erwiesen. Es liegt mittig am Rande der Altstadt und keine 200 Meter vom Start entfernt. So konnte ich bis 15 Minuten vor dem Start im kühlen Hotel verweilen, bevor ich mich in die Hitze des Marathons begeben habe. Das Frühstück ist – selbst für einen Vollwertköstler wie mich – sehr gut und die Mitarbeiter höchst freundlich. Und wenn dann der Espresso Macchiato auch noch von einem wahren Barrista gemacht und serviert wird, was will mein Genießer-Herz mehr?
Am Samstagvormittag schlenderte ich bei hochsommerlichen Temperaturen durch die Altstadt. Was für ein schöner Spaziergang durch Pilsen! Ein kleiner Rundweg von meinem Hotel aus. Zu lang im Hinblick auf den Marathonlauf am Nachmittag, aber zu kurz, um alles wirklich aufsaugen zu können. Ich spazierte über den Platz Náměstí Republiky, vorbei am schönen Rathaus und der Mariensäule, rund um die beeindruckende St.-Bartholomäus-Kathedrale und die drei goldenen Brunnen. Die vielen Grünanlagen und die frische Luft an den Brunnen machten den Morgen perfekt. Auf Instagram habe ich dazu ein kurzes Video veröffentlicht:
Später kaufte ich noch in den regionalen Supermärkten ein, um mir auf dem Zimmer ein Mittagessen vorzubereiten, das mir als letzte Mahlzeit vor dem Marathon geeignet schnien. Ich entschied mich für zwei reife Bananen, in die ich etwa zwei Esslöffel Vollkorn-Haferflocken einknetete, und einige Mandeln nährstoffreiche Zugabe. Als Getränk bereitete ich mir Apfelsaftschorle zu, angereichert mit einer Prise Salz, um meine Natriumreserven randvoll aufzufüllen.
Mein Marathonlauf in Pilsen
Ich liebe die großen, professionell organisierten Wettbewerbe, wie in Berlin und New York City. Doch genauso schätze ich die kleineren Marathons, wie in Kalundborg, Dänemark im Dezember, oder eben jetzt in Pilsen.
Gelaufen wurde auf einem Rundkurs als Wendepunktstrecke. Die Runde war nur 2.637,5 Meter lang, was bei 16 Runden ziemlich genau der Marathondistanz entspricht. Was auf den ersten Blick monoton klingt, erwies sich als kurzweilig. Man konnte überrunden und wurde überrundet, nahm Blickkontakt mit den anderen Läufern auf, tauschte Gesten aus, feuerte sich gegenseitig an oder versuchte auf den letzten Runden mit einem Lächeln das wahre Befinden zu verbergen. Auch für die wenigen Zuschauer war es angenehm, die sich im Schatten der Allee und an einem Café sammelten, denn sie konnten ihre favorisierten Läuferinnen und Läufer beobachten und das Renngeschehen gut verfolgen: „Uih, er fällt zurück. Ah, da kommt sie wieder“, so stelle ich es mir vor.
Bei 32 Grad am Samstagnachmittag starteten 42 Marathonläufer. Dazu auch Staffel-Marathonläufer und Halbmarathonläufer. Vier der Marathonläufer erreichten das Ziel nicht, wer will, erfährt über die Ergebnislisten mehr. Anfangs lief es gut für mich. Ich ließ die Meute vorlaufen, war mir doch bewusst, dass ich diesen Marathon möglichst niedrigpulsig absolvieren wollte. Es sollte mein dritter Marathon im Juli werden, nach drei weiteren im Juni. Das funktioniert bei Marathonsammlern, wenn man die Läufe im Dauerlauftempo angeht.
Bei der Abholung der Startunterlagen zur Mittagszeit hatte ich ein junges Pärchen aus der Ukraine kennengelernt. Ilja plante seinen ersten Halbmarathon, Nora wollte ihn anfeuern. Es war schön, die beiden auf der Strecke immer wieder zu sehen. Ich konnte beobachten, wie Ilja auf den ersten vier Runden mutig ein hohes Tempo anschlug und ihn später motivieren, als er diesem Tribut zollen musste. Er schaffte den Halbmarathon in unter zwei Stunden. Später freute ich mich, dass die beiden mich bei meinen weiteren acht Runden vom Streckenrand aus anfeuerten. Die Einladung zu einem gemeinsamen Abendessen hätte ich unter anderen Umständen gerne angenommen, doch ich war zu erschöpft. Und das kam so.
Nach jeder der 16 Runden lief man an einem Verpflegungstisch vorbei. Es gab Weintrauben, Wassermelone, stilles und sprudeliges Wasser, Iso-Getränke und Cola. Doch manchmal war kein Wasser mehr vorrätig, sodass ich zu dem greifen musste, was verfügbar war. So kam es, dass ich mir 200 Meter vor der Verpflegungsstation etwas Squeezy-Gel aus meiner Flask in den Mund drückte, es mit Vorfreude auf 0,2 Liter Wasser einspeichelte und schluckte, nur um dann mit Iso oder Cola vorlieb nehmen zu müssen. Ich spürte, wie meine Energie nachließ. Der Magen begann zu rebellieren, die Verdauung setzte spürbar ein, und das Blut floss dorthin, wo es gebraucht wurde und fehlte in den Beinen. Mit Erfahrung und Willenskraft überstand ich auch die letzten vier der 16 Runden, obwohl ich langsamer wurde. Für die zweite Hälfte benötigte ich etwa acht Minuten länger als für den ersten Halbmarathon. Na und?
Nach 3:59:10 Stunden erreichte ich das Ziel. Mit Freude nahm ich meine Finisher-Medaille entgegen und plauderte noch ein wenig, auf dem Siegertreppchen sitzend, mit Nora und Ilja. Müde, aber glücklich freute ich mich über die perfekte Wahl meines Hotels. In nur zehn Minuten würde ich unter der Dusche stehen können, um mich anschließend auf dem Bett liegend den Olympischen Spielen widmen zu können. So kam’s. Gibt es Schöneres? Noch etwas Statistik am Rande: im Ziel wurde ich als 11. der 42 Startern gewertet und wurde als 58-jähriger 2. in der M50.
Mit dem Marathon in Pilsen habe ich nun das 26. Land dieser wunderbaren Erde anlässlich eines Marathonlaufs bereist, insgesamt blicke ich aktuell auf 206 Marathonerlebnisse zurück. Und auch wenn meine Zeit in Pilsen von Freitag bis Sonntag nur kurz war, so werden mir Ort und Lauf in besonderer Erinnerung bleiben. Es sind die Begegnungen und Eindrücke, die das Laufen so bereichern und die mich immer wieder motivieren, neue Ziele zu setzen. Die große Reise ist nie zu Ende – es gibt immer ein neues Land, einen neuen Marathon und neue Geschichten zu erzählen. So schließe ich diesen Erlebnisbericht zufrieden und voller Vorfreude auf die nächsten Abenteuer, die noch vor mir liegen.