Als Trainer ist es meine Aufgabe, möglichst präzise Trainingsempfehlungen zu geben, damit meine Kunden ihre persönlichen Ziele sicher erreichen. Und wer die Laufcampus-Methode kennt, der weiß, dass ich ein großer Fan bin von herzfrequenzorientiertem Dauerlauftraining und geschwindigkeitsorientiertem Tempotraining. Umso überraschter sind viele, wenn ich ihnen rate, die Uhr im Training oder Wettkampf einfach mal zu Hause zu lassen und nach Gefühl zu laufen. Doch das fällt vielen schwer.
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Früher war auf dem Sportplatz König, wer eine Stoppuhr hatte. Die ersten Stoppuhren, an die ich mich erinnern kann, waren Handstoppuhren. Sie hingen an einem langen Band, man trug sie um den Hals. Üblicherweise hatten nur Leichtathletiktrainer eine Stoppuhr und nutzten diese, um ihren Schützlingen auf der Aschenbahn mit lauten Kommandos schnelle Beine zu machen. Mit der Verbreitung der Digitaluhren in den 80er Jahren hatte jeder seine Stoppuhr am Handgelenk immer dabei, man konnte mit ihr sogar Zwischenzeiten nehmen.
Nachdem 1983 erstmals die Firma Polar Electro ein Herzfrequenzmessgerät vorstellte, eroberten Anfang der 90er die Pulsuhren allmählich die Ausdauersportszene. Ich erinnere mich noch gut an meine Ungläubigkeit, als mir der Polar-Vertreter 1995 auf der Marathonmesse in München vermitteln wollte, dass ich künftig weniger auf die Zwischenzeiten und mehr auf den Puls achten solle.
Die Messung von Geschwindigkeit, Distanz und Höhenmeter durch Laufsensoren oder GPS war der nächste große technische Fortschritt, der sich in der Breite durchgesetzt hat und auf den im Training kaum noch einer verzichten möchte.
Die neuesten Uhren können aber noch mehr: Sie messen nicht nur den Trainingsfortschritt, sie messen auch den Erholungsstand und warnen so vor Über- und Unterforderung. Sogar die Herzfrequenzvariabilität können sie messen. Ein interessanter und wertvoller Fortschritt.
Wir sprechen zwar noch von Sportuhren, doch Trainingscomputer ist eigentlich die treffendere Bezeichnung für unseren Freund (und manchmal Quälgeist) am Handgelenk. Heute können bei einem kleinen Trainingslauf so viele Daten ermittelt werden, dass die Nachbereitung, die Eingabe in Trainingstagebücher und die Zurverfügungstellung im Internet beinahe so lange dauert wie der Trainingslauf selbst.
Gründe, die Sportuhr zu Hause zu lassen
Gerade für einen Anfänger ist eine Pulsuhr der optimale Trainingsbegleiter, um Körpergefühl sowie das Gefühl für die körperliche Belastung und richtige Trainingsintensität neu zu erlernen. Denn gerade Anfänger laufen gerne zu schnell (z. B. ehrgeizige Läufer) oder zu langsam (z. B. quasselfreudige Läufer) oder zu einseitig (fast alle Hobbyläufer/innen). Doch mit zunehmender Erfahrung verliert die Sportuhr an Bedeutung für den Erfolg des Trainings. Nach spätestens sechs Monaten systematischen Trainings mit Stopp- und Pulsuhr, unter Anleitung eines Trainers oder Trainingsplans, haben die meisten Läufer ihr Körpergefühl so weit entwickelt, dass sie die Intensität, den Trainingsreiz und damit die Folgen für das Training der nächsten Tage einschätzen können. Die Sportuhr kann dann immer häufiger auch mal zu Hause bleiben. Nachfolgend beschreibe ich einige Situationen, in denen ich die Uhr gern zu Hause lasse.
1. Training ohne Sportuhr
Wenn ich mal keine Lust auf Training nach Plan habe, lasse ich die Uhr zu Hause. Ich laufe nach Gefühl, lass mich treiben, entdecke neue Runden und versuche meine Umgebung wahrzunehmen. Erst zu Hause stelle ich dann mit Blick auf die Küchenuhr fest, wie lange ich unterwegs war. Das kann mal nur eine halbe Stunde gewesen sein, oder sogar 90 Minuten und mehr. Es kann sehr erfrischend sein, so zu laufen, wie man gerade Lust hat, ohne sich dem Druck eines Trainingsplans zu beugen.
Ich mache die Uhr auch dann aus und höre auf mein Körpergefühl, wenn mir das Training mal schwer fällt, ich die geplante Intensität nur mit Mühe halten kann. Kein Trainingsplan ist so schlau, dass er die persönliche Wahrnehmung für die eigene Leistungsfähigkeit ersetzen kann. Schließlich ist der Mensch nur so gut drauf, wie es die persönlichen Lebensumstände gerade zulassen. Wenn die Nacht mal zu kurz, die Nahrung zu reichhaltig, die Arbeit zu viel oder der Ärger zu groß war (manchmal kommt auch alles zusammen), dann sollte man sich nicht noch zusätzlich mit einem anstrengenden Training schwächen. Ganz im Gegenteil: Ein langsamer Lauf im Sauerstoffüberschuss kann wesentlich zur eigenen Stärkung beitragen.
Das funktioniert aber auch anders herum. Wenn die Motivation besonders hoch ist, weil es mir gut geht, weil die Sonne scheint oder weil ich einen Lauffreund dabei habe, der ähnlich gut drauf ist wie ich, dann kann es auch mal sein, dass ich „einen raushaue“. Der Trainingslauf wird zu einem spaßigen Kräftemessen, und man sprintet die Hügel bis zur Erschöpfung hoch. Dann ist es egal, was eigentlich im Trainingsplan stand, das intensive Training war an diesem Tag genau so richtig und hat mich weiter gebracht. Klar, dass ich dann das Training an den Folgetagen anpasse und weniger intensiv gestalte.
2. Wettkampf ohne Sportuhr
Auch beim Wettkampf lasse ich die Sportuhr immer häufiger zu Hause. Und der Brustgurt für die Pulsmessung gehört sowieso nicht in die Sporttasche.
Je kürzer die Wettkampfdistanz, umso unwichtiger ist der Puls. Man kann einen Fünf- oder Zehnkilometerlauf nicht nach Herzfrequenz laufen. Hier läuft man so schnell es geht und der Puls ist dabei völlig egal. Die Kenntnis der Herzfrequenz dient zur Trainingssteuerung, nicht zur Rennsteuerung. Im Wettkampf entscheidet die jeweilige Situation über das Tempo. Man läuft so schnell es geht, es zählt allein die Erfahrung, nicht die Herzfrequenz. Man orientiert sich höchstens an Zwischenzeiten und ansonsten an seinen Mitläufern/Gegnern. Sich beim Rennen einer kleinen Gruppe anzuschließen, mitziehen zu lassen, im Windschatten zu laufen, sich bei der Tempoarbeit abzuwechseln, auf andere Läufer aufzuschließen, dabei sein eigenes Tempo zu finden und im besten Fall irgendwann davon zu ziehen – das sind die Themen, die einen beim Wettkampf beschäftigen.
Am ehesten macht die Sportuhr noch bei Halbmarathon- und Marathonläufen Sinn. Hier kann die Orientierung an den gelaufenen Zwischenzeiten pro Kilometer für Anfänger hilfreich sein und beim Marathon zusätzlich vielleicht noch das Wissen um die Herzfrequenz. Das Tempo ist hier gleichmäßig genug, um sich an einer zuvor festgelegten Zwischenzeitenstrategie oder durchschnittlichen Herzfrequenz orientieren zu können. So beugt man einem Leistungseinbruch durch einen zu optimistischen Rennbeginn vor.
Auf keinen Fall sollte man sich aber auf die Tempoanzeige einer GPS-Uhr verlassen. GPS-Daten können stark schwanken, hängen sie doch von der Verfügbarkeit der Satelliten ab. In Häuserschluchten, dichten Wäldern oder durch einen bedeckten Himmel kann es zu Empfangsschwierigkeiten und damit zu Funkaussetzern und erheblichen Abweichungen beim angezeigten Tempo kommen. Hier sollte man lieber dem Körpergefühl bzw. den Zwischenzeiten der Stoppuhr bei offiziellen Kilometerangaben vertrauen.
Doch auch bei längeren Distanzen wie Marathon und Ultramarathon sollte man nach Gefühl laufen, losgelöst von Zeit- oder Pulsvorgaben. Die meisten meiner Kunden schauen mich ungläubig an, können sich dies im ersten Augenblick nicht vorstellen. Sie sind regelrecht abhängig von ihrer Uhr. Wer sich jedoch darauf einlässt, einen Marathon ohne Uhr zu laufen, wird feststellen, dass er seine momentane Leistungsfähigkeit sehr präzise erreicht, vielleicht sogar neue persönliche Bestzeiten aufstellt. Das gesteuerte Training hat das Körpergefühl geschult, der Ehrgeiz treibt einen an, aber die somatische Intelligenz verhindert, dass man sich übernimmt.
Probieren Sie es einfach mal aus und lassen Sie sich überraschen. Meine Bestzeiten über fünf Kilometer bis Marathon bin ich übrigens ohne Uhr gelaufen.
Ein weiterführender Blogartikel über Renntaktik: Ein Rennen fast ohne Sportuhr
Abschließend meine Empfehlung
Gerade Anfänger sollten so häufig mit Sportuhr laufen und leere Kilometer und Überanstrengung zu vermeiden. Auch für Profis lohnt die Trainingssteuerung nach Herzfrequenz und Geschwindigkeit und optimale Trainingsreize setzen zu können. Doch den "Mut" zu haben ohne Sportuhr zu laufen macht einen frei und kann auch selbstbewusst machen und zu neuen persönlichen Bestzeiten führen.
Ihr Andreas Butz