Marathon in Tunesien
Behutsam und achtsam über 42,195 Kilometer
Der 37. Comar Tunis-Carthage Marathon ist weit mehr als ein Hauptstadt-Rennen. Er ist eines der wichtigsten Sportevents in Tunesien, das nicht nur die einheimische Laufszene zusammenbringt, sondern auch internationale Läufer anzieht. Diese Marathon in Tunesien will Historie und Moderne verbinden, führt von der pulsierenden Neustadt in Tunis bis zu den geschichtsträchtigen Ruinen von Karthago.
Für mich war dieser Marathon am 01. Dezember 2024 eine besondere Herausforderung. Ich war angereist, um im 28. Land der Erde einen Marathon zu laufen und meinen insgesamt 210. Marathon zu finishen. Doch die Bedingungen waren alles andere als einfach: Ein abklingender Infekt und die Frage, ob ich überhaupt starten sollte, machten das Erlebnis ungewiss. Dennoch entschied ich, mich der Herausforderung stellen. Und so wurde der Marathon zu einem Lauf, der mich körperlich und mental forderte und mich dafür mit wunderbaren Eindrücken und Erlebnissen belohnte.
Startschuss in Tunis: Ein besonderer Moment
Am Start treffe ich Malek. Er lebt in Sfax, etwa 270 Kilometer südlich von Tunis. Über Facebook-Messenger hatte er mich kontaktiert und berichtet, dass er all meine Videos auf YouTube kennt. Er wollte mich vor dem Start treffen. Seine Zielzeit für den Marathon: 3:45 Stunden. An guten Tagen wäre das locker für mich machbar. Ich schrieb ihm, dass wir gerne zusammen loslaufen können, er würde mich am grünen Laufcampus-Shirt erkennen. So kam es auch.
Wir machen ein Selfie, doch danach lasse ich ihn ziehen. Er spricht ausgezeichnet Deutsch, versteht, dass ich mich nach einer Erkältung noch etwas schone, und kehrt zu seinen Freunden zurück. Kurz darauf werden wir mit „We Will Rock You“ und rhythmischem Händeklatschen auf die Strecke geschickt. Mein nächstes Laufabenteuer Comar Tunis-Carthage Marathon beginnt.
Wir laufen los, auf der breiten Avenue Mohamed V, in der Nähe des Place du 14 Janvier 2011, liegt der Startpunkt des Marathons. Die Straße ist gesäumt von hohen Palmen, flankiert von teils prachtvollen Gebäuden, einer Mischung aus kolonialem Erbe und moderner Architektur. Tunis konnte ich bereits am Vortag als faszinierende Stadt erleben, die so viele Gegensätze vereint. Die Altstadt, die Medina, wirkt wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Enge Gassen, Händler, die ihre Waren lauthals anpreisen, und die lebendige Hektik, die so typisch für arabische Basare ist. So ähnlich, nur noch viel lauter, habe ich die Medina anlässlich meiner Teilnahme am Marrakesch Marathon in Marokko kennengelernt. Im Kontrast zur Altstadt steht die Neustadt von Tunis, die sich viel moderner und geordneter zeigt. Dieser Wechsel von Tradition und Moderne machen Tunis ganz besonders, denke ich, während wir in Richtung Karthago losziehen.
Kilometer 7: Unsicherheit und erster Rhythmus
Es dauert eine Weile, bis ich ins Rennen finde. Eigentlich wusste ich nicht genau, was ich heute machen wollte. Loslaufen und zur Not umkehren, wenn ich spüre, dass meine Teilnahme heute doch falsch ist. Das war eine ernsthafte Überlegung, dies abzuwägen hat der Sportler Andreas dem Trainer in mir versprochen. Doch einmal gestartet, wollte ich zumindest versuchen mit Verstand und Gefühl loszulaufen. Vorsichtig, mit Blick auf meinen Puls. Doch dieser wollte sich nicht beruhigen.
Ich starte im "Wohlfühltempo", etwa mit 5:30 Minuten pro Kilometer, einer Pace, bei der ich mich normalerweise im LDL-Bereich bewege. Doch mein Puls zeigt Höhen, die nicht zu diesem Tempo passten. Ich werde langsamer, lasse zuerst die Pacemaker für 4 Stunden (5:42 min/km) und dann für 4:15 (6:02 min/km) passieren. Schließlich überholt mich sogar das Team für 4:30 Stunden. Das kenne ich so nicht.
Mit einem mittleren MDL-Puls schloss ich mich der 4:30er-Gruppe an. Ein ungewöhnliches Gefühl. Wenn ich "Marathons zum Sammeln" laufe, dann erreiche ich meist eine Zielzeit von 3:45 bis 3:50 Stunden. Doch dieses Mal, so wird mir nun glasklar, würde es anders sein. Ich zähle 12 Männer in der Gruppe. Und zwei Frauen, die gut gelaunt etwas vorne weg laufen. Ich bin mir sicher, dass hier mitzulaufen, eine gute Entscheidung ist.
Kilometer 14: Im Fluss, aber mit Vorsicht
Bislang bereue ich es nicht, in der Gruppe geblieben zu sein. Die Pacemaker machen einen zuverlässigen Job, und wir halten konstant etwa 6:07 min/km. Das entspricht hochgerechnet einer Zielzeit von 4:20 Stunden. Für mich heute völlig in Ordnung. Mein Puls hat sich bei etwa 140 Schlägen eingependelt – ein mittlerer MDL-Wert, mit dem ich mich sicher fühle.
Die Gespräche in der Gruppe sind locker. Wir reden über tunesische Fußballspieler und den Deutschen Klassiker, Dortmund gegen Bayern. Doch ich spüre auch: Der Infekt ist noch nicht ganz überwunden. Die bevorstehende Halbmarathonmarke wird für mich ein erster Meilenstein sein.
Über mir fliegt Tunisair. Ich denke zurück an Freitagabend, als ich am Flughafen Tunis-Carthage gelandet bin. Der Flughafen ist klein, aber geschäftig – ein Ort, an dem die Kulturen vieler Reisenden aufeinandertreffen. Ich hätte eines der modernen Business-Hotels in der Nähe des Flughafens wählen können, direkt am schönen Lac de Tunis, der in Laufrichtung rechts von uns liegt. Doch ich habe mich bewusst für ein Hotel in der Medina entschieden. Ich wollte die Atmosphäre der Altstadt erleben, mit ihren labyrinthartigen Gassen und dem einzigartigen Charme, den nur Orte mit Geschichte haben. Diese Entscheidung, mitten ins Herz von Tunis einzutauchen, hat sich schon ausgezahlt.
Halbmarathon-Marke beim Tunis Marathon erreicht: Zwischen Freude und Vorsicht
Umkehren wäre jetzt dumm, so kurz vor Karthago. Aber die letzten Kilometer haben meinen Puls in den ZDL-Bereich gedrückt. Ich hoffe inständig, dass es am leichten Anstieg in Richtung Karthago liegt. Für mich als Bergläufer eigentlich keine Herausforderung, aber mein Körper reagiert heute sehr empfindlich. Die Pacemaker achten auf ihre Pace, nicht auf meinen Puls – das ist schließlich mein Job.
„This is my 210th marathon,“ antw ich, als die Gruppe nach meinen bisherigen Läufen fragt. Das beeindruckt die Mitläufer, setzt mich aber auch etwas unter Druck. Als der „Läufer aus Allemagne“ in ihrer Gruppe möchte ich keine Schwäche zeigen. Doch ich weiß: Wenn mein Puls nicht bald sinkt, spätestens dann, wenn die Strecke wieder Gefälle hat, dann werde ich mich von der Gruppe wohl nach hinten lösen müssen.
Ich denke an Karthago, einst eine der prächtigsten Städte der Antike. Ich habe Reisedokus dazu gesehen, von ihrer Bedeutung als Handelsmacht in der Antike, Rivale des Römischen Reichs, nur 120 Kilometer von Sizilien entfernt. Während des Marathons bekomme ich nur einen flüchtigen Eindruck von den Ruinen, die von einer glorreichen und zerstörerischen Vergangenheit erzählen. Mache zumindest zwei Fotos. Mächtige Mauern, einst Symbole der Stärke, und verstreute Fundamente sind alles, was geblieben ist. Ich beschließe, am Montag zurückzukehren, um in die Geschichte Karthagos einzutauchen. Ich möchte die Thermen, den kreisrunden Hafen und andere Zeugnisse dieser einstigen Metropole genauer betrachten und verstehen, wie Karthago zu einer Legende wurde. Und Hanibal und Karthago, da gibt es doch auch eine Geschichte, oder?
Kilometer 28: Zwischen Puls und Motivation
Der Puls hat sich nach dem Wendepunkt stabilisiert, ist aber nicht auf dem Niveau der ersten 15 Kilometer. Ich hadere: Soll ich langsamer laufen oder in der Gruppe bleiben? Letzteres motiviert deutlich mehr als mein sorgenvoller Blick auf meine Polar-Uhr. Auch die Unregelmäßigkeit meines Laufs hilft nicht dabei den Puls zu beruhigen. Ich halte immer wieder für Fotos an, genieße den Ausblick auf den See, hole dann die Gruppe wieder schnellen Schrittes ein. Man dreht sich nach mir um, aber warten tut natürlich niemand. Marathon bleibt eine Einzelleistung, auch in der Gruppe. So komme ich immer häufiger in den ZDL-Bereich. Nach geschafften zwei Dritteln der Marathondistanz entscheide ich für mich, dass dies nun okay für mich ist, nehme bewusst Abschied vom MDL.
Wieder laufen wir viele Kilometer am Lac de Tunis vorbei, ein großer See, der sich wie eine ruhige Oase neben der geschäftigen Stadt erstreckt. Dieser große Salzsee verbindet die Medina und die Neustadt mit dem Flughafen und spiegelt den Himmel in einem fast surrealen Blau. Seine Ufer bieten Lebensraum für zahlreiche Vögel und laden die Menschen zum spazieren oder verweilen ein. Der weite See hat etwas Beruhigendes, fast Meditatives, und bildet einen faszinierenden Kontrast zur Hektik der Stadt. Wohl auch, weil der Marathon die Verkehrsadern still legt, die breiten Schnellstraßen, die wir Läufer heute einige Stunden lang exklusiv für uns haben.
Kilometer 35 beim Marathon: Der innere Kampf
Ich laufe nun sogar vor der Gruppe, weil das Tempo immer langsamer wurde. Einige hundert Meter vor der Verpflegungsstation nehme ich mir aus der Hosentasche eine Dattel und kaue sie lange. Ich trinke anschließend reichlich und warte, bis "meine Gruppe" mich wieder einholt. Ein merkwürdiges Gefühl, das Vorauslaufen auf den letzten zwei Kilometern hat sich nicht richtig angefühlt, nach 30 Kilometern, die ich mich habe pacen lassen. Ich beschließe wieder den Anschluss an meine neuen Lauffreunde zu halten. Doch nach wenigen hundert Metern merke ich: Die Gruppe wird immer langsamer. Vielleicht bewusst, um die Zielzeit von 4:29 Stunden zu erreichen? Ich laufe wieder alleine voraus und beginne, einzelne Läufer einzuholen. Auch das fühlt sich gut an.
Ja, die Datteln, diese spielen bei diesem Marathon eine ganz besondere Rolle spielen. An jeder der acht Verpflegungsstationen, alle fünf Kilometer, lagen sie bereit - kleine, natürlich Kraftpakete. Auch im Ziel sollten sie gereicht werden, als süßer Energieschub nach den Anstrengungen. Tunesien ist bekannt für seine Datteln, und es ist ein Genuss, sie so frisch zu kosten. Die Vorstellung, dass diese Früchte irgendwo in der Nähe auf einer Plantage geerntet wurden, machte sie besonders. Gerade heute, wo es nicht um Bestzeiten geht und Energygels die vielleicht bessere Wahl wären, waren die Datteln nicht nur Energielieferanten, sondern auch ein Stück tunesischer Kultur auf der Strecke.
Kilometer 38: Eine neue Sicht auf das Finale
Ich stelle mir die letzten Kilometer in Stadionrunden vor – zehn und eine halbe Runde. Für mich fühlt sich das greifbarer an, als an die verbleibenden 4,2 Kilometer zu denken. Läufer ticken manchmal seltsam. Doch dieser Trick funktioniert bei mir, und ich finde wieder Rhythmus.
Kilometer 39: Erinnerungen und Herausforderungen
Ich denke an den Zermatt-Marathon, den ich 2025 mit Laufcampus wieder ansteuern werde. Wenn ich dort die 39 Kilometer sehe, dann weiß ich, das ich jetzt noch etwas 45 Minuten zu laufen habe. Denn zu den letzten 3,2 Kilometer kommen nochmal 500 stramme Höhenmeter hinzu. Hier in Tunis erwarte ich, die letzten flachen 3.200 Meter in etwa 20 Minuten zu bewältigen. Diese Gedanken lenken mich ab, während ich mich langsam Richtung Ziel bewege.
Kilometer 40: Der finale Countdown
Die magische 40-Kilometer-Marke ist erreicht. Nur noch 2,2 Kilometer. Die Beine sind schwer, die Energie schwindet, doch ich weiß: Jetzt ist Durchhalten alles. Ein Läufer spricht mich an, filmt ein Video und fragt, woher ich komme. „From Germany,“ antworte ich. Er erzählt, dass er den Berlin-Marathon laufen möchte. Ich lächele. Für ihn wird das ein Kulturschock – von knapp 500 Läufern hier in Tunis zu 50.000 in Berlin.
Nur noch drei Stadion-Runden: Fast geschafft
Ich bin froh, dass ich mich dem Marathon gestellt habe. Doch ich fürchte mich schon vor den etwa 2 Kilometer vom Ziel zu Fuß zum Hotel. Die Hälfte davon durch die Suqs mit seinen zahlreichen geschäftstüchtigen Händler. Das wird wieder ein freundlicher Abwehrkampf, denn wir haben unterschiedliche Interessen. Ich habe nicht vor etwas zu kaufen, sie wollen dennoch versuchen mit mir ein Geschäft zu machen. Doch vor den Suqs kommt erstmal der Zieleinlauf und eine hoffentlich ergiebige Zielverpflegung. Und eine schöne Medaille vom Tunis-Carthage Marathon, für mein Reck der Erinnerungen im Büro. Vor uns bauen sich die Hochhäuser von Tunis auf. Auch ein netter Anblick.
Noch 500 Meter: Endspurt mit Ausblick
Die Neustadt von Tunis rückt näher. Ich sehe den Zielbogen und den ikonischen Uhrenturm, der oft als Fotomotiv dient. Es ist 12:22 Uhr, und ich höre den Ruf des Muezzins. Um 12:15 wird er begonnen haben, so wie gestern auch. Ich genieße diese letzten Meter, angefeuert von zahlreichen Zuschauern am Streckenrand. Viele von ihnen sind bereits den Halbmarathon gelaufen. Nach etwa 4:24 Stunden laufe ich über die Ziellinie.
Zieleinlauf und Fazit
Im Ziel warte ich auf meine „Friends“ aus der Gruppe. Wie vermutet, kommen die zwei Pacer in 4:29.30 Stunden ins Ziel. Auch die anderen ihrer Mitläufer haben Sie auf den letzten Kilometern nach vorne verloren. Das wird niemand wirklich gestört haben. Denn als wir – und vor allem ich – sie brauchten, waren sie da. Nur einen der zwei Pacer erwische ich im Zielkanal, der andere biegt vorher in den VIP Bereich ab. Ich bedanke mich für seine Arbeit und umarme ihn. Gefällt uns beiden.
Die Frage bleibt: War es klug, diesen Marathon zu laufen? War die Belastung richtig dosiert? Das werde ich wohl erst morgen wissen. Doch eines weiß ich jetzt schon: Dieses Erlebnis werde ich nicht vergessen, ein besonderes unter meinen bis dato 210 Marathonläufen.
Euer Andreas